Siegfried, Walkürenschar und Inzest — “Der Ring an einem Abend” in der Oper Graz
Text: Lukas Wogrolly / Living Culture; Fotos: Oliver Wolf
Mario Lerchenberger (Loge), Kyle Albertson (Wotan/Wanderer) und Markus Butter (Alberich)
Anna Brull (Floßhilde/Roßweiße), Corina Koller (Wellgunde/Gerhilde) und Tetiana Miyus (Woglinde/Helmwige)
Chefdirigent Roland Kluttig am Pult der Grazer Philharmoniker
Daniel Kirch (Siegmund/Siegfried)
Mario Lerchenberger (Loge), Kyle Albertson (Wotan/Wanderer) und Markus Butter (Alberich)
Mareike Jankowski (Fricka/Waltraute) und Kyle Albertson (Wotan/Wanderer)
Anna Brull (Floßhilde/Roßweiße), Corina Koller (Wellgunde/Gerhilde) und Tetiana Miyus (Woglinde/Helmwige)
Maria Happel (Erzählerin)
Ensemble
Ensemble
Ensemble
Eigentlich dauert die Aufführung aller vier Teile der Wagner-Tetralogie „Ring des Nibelungen“ zusammen 16 Stunden. Ist das „Rheingold“ als erster Teil mit zirka zweieinhalb Stunden Spielzeit noch im Normalbereich einer Oper hinsichtlich der Länge anzusiedeln, so sind die drei weiteren Teile „Die Walküre“, „Siegfried“ sowie die „Götterdämmerung“ mit jeweils zirka vier Stunden genau jene Werke, die Richard Wagners Ruf als Meister der endlosen Opern ausmachen. Gezeigt wird in der Oper Graz jedoch keines der vier Stücke. Sondern eine um zirka dreizehn Stunden verkürzte Sprechversion des gesamten „Rings des Nibelungen“. Verantwortlich für diese Kurzfassung mit dem Titel „Der Ring an einem Abend“ zeichnete vor ziemlich genau dreißig Jahren, ein gut einhundert Jahre nach Richard Wagner lebendes Universalgenie derselben Nationalität: Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot, fasste in seinem Werk 1992 das Geschehen oft nur mit einem Satz oder gar nur einem Wort zusammen. Und das auf die ihm bekannte oft satirisch-pointierte Art und Weise, für die er mit seinen Sketches weltberühmt wurde. Bevor wir näher auf die Besonderheiten dieser Kurzfassung eingehen, ein Versuch: Wie würde Loriot das Wagnersche Göttergeschehen in einem Graz-Kontext sehen?
Nun ja, Graz- beziehungsweise Österreich-Bezüge gibt es in der von Wagner dargebrachten germanischen Götterwelt genug. Beginnend mit der Nibelungengasse, an der das Universitätszentrum WALL ebenso liegt wie die imposante Herz-Jesu-Kirche mit dem dritthöchsten Kirchturm von ganz Österreich.
Über die in der germanischen Mythologie zentrale Figur des Siegfried. Auch in der jüngeren Geschichte der Stadt Graz findet sich die Figur eines Siegfried. Dessen sagenhaftes Grazer „Heldenepos“ 1998 als Finanzstadtrat begann, 2003 in der Wahl zum später längstdienenden Grazer Bürgermeister seinen Höhepunkt erreichte und im September 2021 mit einem dramatischen Wahlsieg der KommunistInnen sein unerwartetes Ende fand.
Und dann ist da noch der lustvolle Göttervater Wotan. Der zwischen Teil 1 „Rheingold“ und Teil 2 „Die Walküre“ zusätzlich zu seiner Lieblingstochter Brünnhilde acht weitere Töchter zeugt, genannt „Die Walküren“: Gerhilde, Ortlinde, Waltraute, Schwertleite, Helmwige, Siegrunde, Grimgerde und Rossweiße. Sie alle haben im zweiten der vier Abschnitte ihren großen Auftritt. Mich erinnern diese vielen Nachkommen an die bekannte Grazer Familie Hofmann-Wellenhof. Über deren Kinderreichtum von acht leiblichen Kindern plus einem Adoptivsohn der Vater Gottfried nicht nur eine allwöchentliche Sonntagskolumne in der Kleinen Zeitung schreibt, sondern auch schon Bücher geschrieben hat.
Doch leider sticht bei der von Wagner und Loriot so eindrucksvoll vermittelten germanischen Götterwelt neben dem Kinderreichtum auch noch ein weiteres, brisantes Thema als hochaktuell hervor, das jedoch bei weitem nicht so erfreulich ist. Der Inzest, wie ihn die Erzählerin Maria Happel und somit auch Loriot vor 30 Jahren formuliert, am Beispiel des sich liebenden und dann im Laufe des Dramas zum Tode verurteilten Geschwisterpaares Siegmund und Sieglinde. Josef Fritzl beziehungsweise dieses Stück ist der eindrucksvolle genauso wie traurige Beweis dafür: Ob nun Götter oder Menschen, ob einst oder heute. Es gibt da wie dort unsagbares Leid.
Doch nun zurück zu Loriots „Der Ring an einem Abend“. Die markanteste Besonderheit neben der Verkürzung um dreizehn Stunden auf insgesamt gut drei Stunden ist zweifelsohne das Fehlen eines Bühnenbildes. Wie bei einem Konzert steht das Orchester nicht im Orchestergraben, sondern auf der Bühne. Und die wichtigsten handelnden Akteure und Akteurinnen treten aus dem Hintergrund hervor und performen ihre Arien mit berühmter orchestraler Begleitung unter dem Dirigat von Roland Kluttig. Die wohl für Wagner charakteristischste Szene ist dabei sicherlich der gemeinsame Auftritt und Gesang aller acht Walküren in der gleichnamigen Oper beziehungsweise im gleichnamigen Abschnitt, deren Namen bereits oben genannt wurden. Wagner und Loriot als Autoren von einst, Roland Kluttig als musikalischer Leiter von heute. Die vierte im Bunde der Originale Made in Germany ist die Erzählerin Maria Happel. Wie bereits anfangs erwähnt, besteht die Essenz von Loriots „Der Ring an einem Abend“ darin, das Geschehen der überlangen Opern in einzelnen Sätzen oder gar nur Worten gekonnt pointiert zusammenzufassen. Dementsprechend kommt auch der Rolle der Erzählerin an diesem Abend eine zentrale Bedeutung zu.
Für einen gelungenen Opernabend braucht es also: nicht unbedingt ein Bühnenbild, aber: 4 Originale „Made in Germany“ mit Wagner, Loriot, Kluttig und Happel. Überzeugender Gesang von den internationalen Akteurinnen und Akteuren, viele davon ob der Wagnerschen Figurenvielfalt mit Doppelrollen bedacht: Tetiana Miyus als Woglinde und Helmwige, Daniel Kirch als Siegmund und Siegfried, Mareike Jankowski als Fricka und Waltraute, oder auch der aus „Der fliegende Holländer“ bekannte amerikanische Bassbariton Kyle Albertson als Wotan & Der Wanderer. Nicht zu vergessen die namentliche Diskrepanz mit ein bisschen Augenzwinkern: Sieglinde Feldhofer spielt Ortlinde & Gutrune, nicht aber die Figur Sieglinde. Denn die ist Betsy Horne, ohne Doppelrolle im Übrigen, vorbehalten. Dazu noch einige andere Akteurinnen und Akteure. Und dann braucht es natürlich auch einiges an Steh- beziehungsweise Sitzvermögen. Denn knapp dreieinhalb Stunden brutto inklusive Pause sind auch mehr als ein durchschnittlicher Opernabend. Natürlich hilft dabei ein bisschen das Zusammenfassen des Geschehens durch die Sprechtexte. Aber: Das Bühnenbild hätte man aus meiner Sicht ja vielleicht auch digital projizieren können. Denn so erinnert das Ganze auch ein bisschen an Studienopern für Musikstudierende. Und: es weist markante Ähnlichkeit mit einem Hörspiel auf. Die Präsenz einer fast Märchenerzählerin wie in den Schlumpf-Hörspielen meiner Kindheit. Und eben die volle Konzentration auf Geschichte, pointiert wie tragisch, und Musik. Ein Konzert, ein szenisches Erlebnis, dem das Optische fehlt. Und das somit sowohl für Menschen mit visueller Beeinträchtigung als auch als Hörspiel nichts von seinem Reiz einbüßen würde. Auch, aber nicht nur ob der fortgeschrittenen Stunde nach über 3 Stunden klangvoller Wagner-Götterwelt, schloss ich gegen Ende der Vorführung immer wieder die Augen. Und konnte alles, also das Klangerlebnis bestehend aus Orchester, Erzählstimme und Operngesang, fast genauso schön und eindrucksvoll erleben wie zuvor mit geöffneten Augen.
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DER RING AN EINEM ABEND
Erzählerin Maria Happel
Chefdirigent Roland Kluttig am Pult der Grazer Philharmoniker
Mario Lerchenberger (Loge), Kyle Albertson (Wotan/Wanderer) und Markus Butter (Alberich)
Mareike Jankowski (Fricka/Waltraute) und Kyle Albertson (Wotan/Wanderer)
Anna Brull (Floßhilde/Roßweiße), Corina Koller (Wellgunde/Gerhilde) und Tetiana Miyus (Woglinde/Helmwige)
Alexandra Petersamer (Brünnhilde) und Betsy Horne (Sieglinde)
Neven Crnić (Gunther), Sieglinde Feldhofer (Ortlinde/Gutrune) und Wilfried Zelinka (Hagen)