Rebecca Salentin — Von Leipzig über Budapest zum Sieg beim “El mundo-Festival”
Text und Fotos: Lukas Wogrolly / Living Culture
Zugegeben. El mundo 2021 war ein bisschen anders. Anders, natürlich wegen der Pandemie. Hatten wir doch im Vorjahr nach einem einigermaßen entspannten Sommer noch bis Mitte / Ende September auf eine Austragung trotz Corona-Pandemie gehofft, kam am Sonntag, 4. Oktober 2020 — knapp drei Wochen vor dem ursprünglichen Termin — die definitive Absage. Die Infektionslage hatte sich mit dem Sinken der Temperaturen und der damit verbundenen Verlagerung des Lebens von den Außen- in die Innenbereiche zunehmend besorgniserregend gestaltet und von Impfung war damals noch keine Rede.
Ganz anders die Situation 2021: Trotz frischen ‑2 Grad in der Nacht und nur 11 Grad plus tagsüber in Judenburg stand einer Austragung von El mundo 2021 nichts im Wege. Wie auch bei allen übrigen Veranstaltungen sowie in der Gastronomie et cetera erwies sich die Impfung als Gamechanger. Hinein ins Veranstaltungszentrum Judenburg, kurz VAZ genannt, kam man nur mit dem berühmten „Grünen Pass“ bzw. der 3G-Regel: „Geimpft, Genesen, Getestet“. Dafür war die Atmosphäre nahezu wie in den vergangenen Jahren und der Schlusstag Samstag war sogar ausverkauft!
Doch nun weg von coronabedingten Rahmenbedingungen, rein in El mundo 2021. An einem kühlen Freitagmorgen mache ich mich auf den Weg mit dem Zug die Mur entlang, von Graz über Bruck an der Mur, wo der Zug gute 10 Minuten hält und die Fahrtrichtung ändert, und Leoben und Knittelfeld, bis nach Judenburg. Unterwegs unterhalte ich mich mit einer spanischen, aus Galizien stammenden Speisewagen-Stewardess, die mich in der 1. Klasse betreut. Sie lebe jetzt in Graz, habe aber zuvor jahrelang in Judenburg gelebt. Als ich um kurz vor 7 Uhr morgens am Bahnhof Judenburg ankomme, wird es erst langsam hell. Aber ich wollte unbedingt so früh fahren von Graz aus, denn alle späteren Verbindungen wären im Gegensatz zu dieser ausnahmslos mit Umsteigen gewesen. Mit meinem Koffer mache ich mich auf den Weg zu Fuß über die Mur und dann beim Kreisverkehr auf der anderen Murseite die steile Treppe hinauf. Oben angekommen – ein kurzer aber heftiger Anstieg – stehe ich sogleich vor bereits erwähntem Veranstaltungszentrum VAZ und direkt daneben die Jugendherberge, beziehungsweise offiziell „JUFA Klosterhotel Judenburg“, wobei die Abkürzung „JUFA“ für „Jugend- und Familiengästehäuser“ steht. El mundo, JUFA, VAZ. Das Vokabular hier bei diesem Festival hat es ein bisschen in sich. Und auch das VAZ beziehungsweise JUFA. Denn beides ist ein ehemaliger Sakralbau, ein ehemaliges Kloster. So wie das steiermärkische Landesarchiv am Grazer Karmeliterplatz. Den ursprünglichen Charakter merkt man recht deutlich sowohl innen aber außen. Es wurde aber vor allem durch Zubauten aus Glas einiges verändert. Im JUFA beispielsweise kommt man in mein Mansardenzimmer im 3. Stock über einen Lift, der außerhalb des Gebäudes angebracht wurde und durch einen gläsernen Verbindungsgang mit ihm verbunden ist.
Doch nun genug der Architektur. Ich sehe mich in Judenburg um, nachdem ich noch ein Frühstück vom Frühstücksbuffet zu mir genommen habe. In der Provinz scheint es schwierig zu sein, 1. Ein Abendessen nach 20:30 Uhr zu bekommen 2. Einen Rucksack zu kaufen. Denn zu 2. Das einzige Sportgeschäft, das mir empfohlen wurde, liegt 30 Gehminuten entfernt. Ich finde jedoch in einer Art Baumarkt beziehungsweise Gemischtwarenhandlung direkt neben dem Eurospar einen Schülerrucksack. Neben einem kleinen Rundgang durch Judenburg interessiert mich neben „El mundo“ der Judenburger Fotomonat, also eine Reihe von parallel stattfindenden, frei zugänglichen Fotoausstellungen. Die spektakulärste von ihnen ist zweifelsohne die Wander-Freiluftausstellung „Menschenbilder“, kuratiert von Christian Jungwirth, auf dem Hauptplatz. Die vorvorige Edition 2019 habe ich bereits ausführlich beschrieben. Hier nun so viel: Das Foto mit den vielen Masken inspiriert mich zu einem Selfie auf dem ich trotz Freiluft und keinen Menschen um mich und Impfung eine FFP2-Maske trage. Dann ist Mittagessen angesagt, traditionell im Restaurant Arkadia, wo mich eine Kellnerin bereits freundlich begrüßt. Für den Pulled Pork Burger entscheide ich mich als Hauptspeise, davor gibt es Kaspresseckensuppe und danach Eispalatschinke. Traditionell zu Früchtetee.
Und dann ist auch schon El mundo – Time, denn der Nachmittag hat begonnen. Bei Organisatorin Karoline Straner hole ich mir meine Akkreditierung und nehme sogleich erstmals auf der Galerie Platz. Von oben habe ich den perfekten Überblick, bin aber zugleich recht weit entfernt. Am Beginn des letzten Vortrags des Abends muss ich das Gebäude verlassen. Schade, zum einen da es einer der interessantesten und vielleicht der speziellste überhaupt war. Khaled Hakami referiert über „Leben mit den letzten Jägern und Sammlern“. Und zum anderen, denn ich muss gute 20 Minuten auf mein zuvor bestelltes Taxi warten. Ein Taxi das mich um kurz vor 21 Uhr in ca. 6 min nach Fohnsdorf, ins vom „Projekt Spielberg“ unter Dietrich Mateschitz betriebene Hotelrestaurant des Schlosses Gabelhofen, bringt. Über eine Brücke erreiche ich eindrucksvoll das Schloss und esse die klassischste aller Speisen: Wiener Schnitzel mit Petersilkartoffeln und Preiselbeeren, dazu Rotwein. Einen dritten Gang kann ich ob der fortgeschrittenen Uhrzeit um kurz nach 21 Uhr nicht mehr bestellen. Sogleich geht es um zirka 22 Uhr mit demselben Taxifahrer und zum selben Preis von ca. 15 Euro zurück nach Judenburg ins JUFA.
Der Samstag beginnt mit einer Fotoausstellung im Stadtmuseum über die Geschichte des Red Bull Rings in Spielberg und sogleich danach wieder mit dem zweiten und letzten Mittagsmahl im Arkadia. Backerbsensuppe und Hühnerfiletspitzen mit Pommes gibt es, dazu wieder Eispalatschinken und Früchtetee.
Und dann wieder 14:30 Uhr und El mundo. Im Vorfeld kontaktiere ich via Facebook die neue Judenburger Vizebürgermeisterin und Kulturstadträtin Elke Florian (SPÖ), ich werde sie später auf der Bühne kurz wiedersehen. Moderator Kurt Kaiser macht mich auf eine Neuerung aufmerksam, nämlich die duftenden Raumbefeuchter von clair. Einer von ihnen ist direkt hinter mir, denn im Unterschied zu Freitag sitze ich am heutigen Samstag nicht mehr auf der Galerie, sondern seitlich in der zwölften Reihe rechts. Die Vorträge, wiederum spannend und abwechslungsreich, eine Aufzählung und nähere Beschreibung würde den Rahmen sprengen. Nepal kommt mehrmals vor, manchmal geht es zu Fuß, mal mit dem Pferd, mal mit dem Fahrrad beziehungsweise Mountainbike, bei einem Freitagsvortrag auch mit dem Tandem. Keinen Preis abräumen sollte später „Der lange Ritt“ von Sonja Endlweber, die mit 1 Menschen, 1 Hündin sowie Reit- und Packpferden von der US-amerikanisch-mexikanischen Grenze bis nach Alaska unterwegs war. Beim Verlassen des Gebäudes sollte ich noch kurz mit ihr sprechen können und es etwas bedauern, dass sie keinen Preis gewonnen hat. Obwohl ich beim Publikumspreis für Stefan Spangenberg mit „Mein Weg zu Fuß nach Jerusalem“ gestimmt hatte. Auch dieser Beitrag, so toll er auch war, er geht ebenfalls leer aus.
Kurz vor der Preisverleihung referiert außerhalb des Wettbewerbs Fotograf Bernhard Brenner über spezielle Fotoreisen, bei denen man exklusiv in Mini-Luxusfliegern quer über den Globus unterwegs ist. „Diejenigen, die sich diese Reisen nur knapp leisten können, sind für gewöhnlich auch diejenigen die sich am leichtesten und am häufigsten beschweren. Die betuchteren hingegen sind viel ruhiger und regen sich kaum auf.“ Wie wahr, wie wahr, dieses Fazit von solchen Exklusivreisen, denke ich mir. Ohne mich über den – im Vortrag nie genannten – genauen Preis informiert zu haben.
Und dann kommen wir also nun zur Preisverleihung. Traditionell werden bis auf den Publikumspreis die Preise von den einzelnen Jurymitgliedern überreicht. Darunter Fotograf, Wüstenkenner und Trekkingunternehmer Karl Lueger; der ehemalige Kleine-Zeitung-Journalist und jetzige nunmehrige Freiberufler Klaus Höfler; die Deutsche Birgit Blumenstiel von der deutschen Zentrale für Globetrotter und der selbstständige Fotograf Georg Ott. Geleitet wurde die Jury heuer von Globetrotter Bruno Baumann.
Der Preis für die beste Fotografie geht an Stefan Voitl mit „Am Weg“, der in Nepal unter anderem den mittlerweile verstorbenen Kletterer David Lama begleitet hat. Das größte Abenteuer hat für die Jury der Wahl-Grazer und gebürtige Duisburger — mit irakischem Vater und deutscher Mutter — Thair Abud erlebt. Er war auf dem Weg zu Fuß vom Nordkap zum Kap der Guten Hoffnung im März 2020 in Marokko vom Ausbruch der Corona-Pandemie überrascht worden und erzählte in seinem Vortrag von seiner Art des „Herumirrens“ in diesen ersten ungewissen Monaten. Den dritten Gesamtrang belegte das deutsche Duo Thorge Berger und Mehran Khadem-Awal mit iranischen Wurzeln über einen Vortrag der am Samstag das offizielle Programm abschloss und der Lust auf einen Aufenthalt im Iran machen sollte: „Iran – verborgene Schönheit“. Platz 2 ging an Doris Wimmer und Matthias Jungwirth mit „Wilde Welt – Weltreise im Reich der Wildtiere“, wo es immer um die Begegnung mit wilden Tieren ging.
Apropos wilde Tiere: So (un)spektakulär es klingen mag, aber bei fast allen Vorträgen hatte ich als „Lukas Normalreisender“ fast das Gefühl, ich würde das nicht so leicht schaffen, was die alle gemacht haben. Die vielleicht einzige echte Ausnahme bildete ausgerechnet der Siegerinnenvortrag der Leipzigerin Rebecca Salentin „Klub Drushba“. Eine Frau, Anfang 40, mit erwachsenen Söhnen, der der Partner abhandengekommen ist und die ihre Bleibe räumen muss, macht sich auf: auf den einzigen echten Weitwanderweg des Sozialismus: von Leipzig durch die ehemalige DDR, über Tschechien, Polen, Slowakei, Ukraine bis nach Budapest. 2.700 km, ein Bergwanderweg der Freundschaft. Dabei besiegt sie ihre Ängste, überwindet ihre Sorgen, und begegnet Menschen, einzigartigen Zufallsbekanntschaften, die sie immer wieder ein Stück des Weges begleiten. Wenn man bedenkt, dass diese Berge dort viel niedriger sind teilweise als in Österreich, und es dort auch weder hinsichtlich Wetterkapriolen noch wilder Tiere noch Kriminalität – im Unterschied etwa zu Afrika, Südamerika oder Asien – große Schwierigkeiten gibt, versteht man, warum ich vielleicht lediglich die Sieges-Tour mir zutrauen würde, so (un)spektakulär es klingen mag. Aber die Art, mit persönlichen Ängsten und einer Situation der Bedrängnis (kein Haus, kein Partner, Kinder außer Haus) umzugehen, sich zu überwinden und dem Leben einen neuen Sinn zu geben, gepaart mit der überaus pointierten Erzählweise voll von heiteren Lach-Momenten, steht einfach über jeder Schwierigkeit beziehungsweise Spektakularität/Grandiosität der Landschaft und der Umgebung. Es geht bei El mundo eben nicht immer nur um die tiefste Schlucht, den höchsten Berg oder das wildeste Tier, dem man ins Auge geblickt hat. Es zählen auch, und vielleicht sogar noch viel mehr, Persönlichkeit und Authentizität. Das Wie mehr als das Was. Im Leben wie in diesem Wettbewerb. Das Jury-Votum ist diesbezüglich eindeutig.
Und ähnlich besonders ist auch das Votum des Publikums für den Publikumspreis. Dieses Votum wird traditionell von einer lokalen Politikperson verkündet, diesmal ist es eben die bereits erwähnte Judenburger Vizebürgermeisterin und Kulturstadträtin Elke Florian (SPÖ), die Khaled Hakami mit seinem Vortrag über die letzten Jäger und Sammler zum finalen Preisträger dieses Abends macht. Kaum sind alle PreisträgerInnen verkündet und alle TeilnehmerInnen überhaupt auf der Bühne, geselle ich mich dazu, um ein Foto mit der Siegerin Rebecca Salentin zu erhaschen. Und dann geht es noch zu Elke Florian, zum Gespräch mit ihr, denn ich hatte sie ja zuvor kontaktiert. Leider währt das Gespräch nur kurz, denn schon relativ schnell verlassen wir beide die Bühne und gehen getrennte Wege.
Ich muss noch zum Essen im Gruber, wo ich am Hauptplatz reserviert habe. Doch auch hier – es ist mittlerweile 21:30 Uhr – ein böses Erwachen. Die Küche bereits geschlossen, nur mehr Kebab oder Pizza angeblich. Doch ich gebe mich nicht geschlagen und finde am Hauptplatz gegenüber den Sternenwirt, direkt neben der SPÖ-Zentrale. Eine Slowakin kredenzt mir – einmal mehr, wie am vergangenen Abend im Schloss Gabelhofen – das Wiener Schnitzel. Diesmal aber mit Pommes. Im nächsten Jahr werde ich vielleicht wieder Teil der Globetrotterparty sein. Denn der Austausch mit den anderen hat mir diesmal eindeutig ein bisschen gefehlt. Im Programmheft war eben zuvor nie davon die Rede, dass es so eine Party überhaupt geben würde. Und dann wurde während des Festivals verkündet, diese Party würde – im Unterschied zur Vor-Corona-Zeit – nicht mehr im VAZ vor Ort mit Buffet stattfinden, sondern in meinem Mittagslokal Arkadia. Dieses Mal habe ich sie mir erspart, aber es bleibt die Hoffnung auf 2022 um mich mehr mit den anderen austauschen zu können. Und um vor allem auch nach 21:30 Uhr in der Provinz noch etwas Anständiges zwischen die Zähne zu bekommen.
Last but not least besuche ich den Sonntagsgottesdienst bei strahlendem Sonnenschein in der am Hauptplatz gelegenen Stadtpfarrkirche St. Nikolaus. Danach hole ich noch mein Gepäck und es geht bei strahlend blauem Himmel wieder die Stufen hinunter zum Kreisverkehr. Und dann über die Mur, danach links zum Bahnhof. El mundo 2021 beziehungsweise Judenburg 2021 war eine Reise wert – anders und spektakulär. Mit vielen neuen Erkenntnissen, auch was ich besser beziehungsweise anders machen kann und will 2022. Hoffen wir das Beste!