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Mein Vater ist Diri­gent


Text und Fotos: Lukas Wogrol­ly / Living Cul­tu­re
Fabio Lui­si ist Chef­di­ri­gent des Opern­hau­ses “Tea­t­ro La Fenice” in Vene­dig.

Es ist der 31. Okto­ber 2021: Ein Besuch am ver­las­se­nen Lido di Vene­zia, unmit­tel­bar vor dem seit 2010 geschlos­se­nen und lang­sam ver­fal­len­den Hotel Des Bains, einst ful­mi­nan­te Abstei­ge der Bien­na­le-Film­stars und vor allem Schau­platz von Tho­mas Manns Novel­le „Der Tod in Vene­dig“. Dann geht es ins bewirt­schaf­te­te, aber an die­sem Tag gespens­tisch ver­las­sen anmu­ten­de Nobel­ho­tel „Aus­o­nia Hun­ga­ria“, eben­so am Lido, das kurz vor dem Sai­son-Kehr­aus steht. Und am Abend zurück ins Herz Vene­digs, zum Tea­t­ro La Fenice. Der mor­bi­de Charme des letz­ten Okto­ber­ta­ges steht im Kon­trast zur luxu­riö­sen Innen­ein­rich­tung des berühm­ten Opern­hau­ses von Vene­dig. Fabio Lui­si ist neu­er Chef­di­ri­gent. Ja, genau jener Fabio Lui­si, von dem mir sein Sohn Matteo Lui­si in lupen­rei­nem Deutsch vor ziem­lich genau zwan­zig Jah­ren beim wöchent­li­chen Tisch­ten­nis­spie­len erzählt hat: „Mein Vater ist Diri­gent. Und Ita­lie­ner.“ Zwei Vor­füh­run­gen mit Fabio Lui­si ste­chen mir ins Auge. Zum einen das ein­zig mir bekann­te „ech­te Kon­kur­renz­pro­dukt“ zum Neu­jahrs­kon­zert der Wie­ner Phil­har­mo­ni­ker, das „Con­cer­to di Capo­dan­no“ im Tea­t­ro La Fenice am Neu­jahrs­vor­mit­tag. Der mitt­ler­wei­le ver­stor­be­ne und legen­dä­re Geor­ges Prêt­re diri­gier­te in Wien zu Neu­jahr 2008, dann in Vene­dig 2009, dann wie­der in Wien 2010. In Vene­dig und beim zwei­ten Mal Wien-Diri­gat war ich zuge­gen.

Nun zum „Con­cer­to di Capo­dan­no“: Abge­se­hen viel­leicht von ideo­lo­gi­schen Grün­den, wie „Ist die Wal­zer­mu­sik der Strauss-Fami­lie berühm­ter oder doch die Opern ita­lie­ni­scher Kom­po­nis­ten?“, liegt der Grund für die­ses ein­zi­ge zeit­gleich zum Wie­ner Neu­jahrs­kon­zert statt­fin­den­de Neu­jahrs­kon­zert wohl auch dar­in, dass das ita­lie­ni­sche Staats­fern­se­hen RAI am Neu­jahrs­vor­mit­tag zunächst den um 10 Uhr begin­nen­den Fest­got­tes­dienst aus dem Peters­dom aus­strahlt. Und erst danach, um kurz vor 12:30 Uhr, den zwei­ten Teil des „Con­cer­to di Capo­dan­no“ aus „La Fenice“. Das Neu­jahrs­kon­zert der Wie­ner Phil­har­mo­ni­ker gibt es erst am frü­hen Nach­mit­tag als Auf­zeich­nung. Es beginnt um 11:15 Uhr und der zwei­te Teil nicht immer genau um 12:30 Uhr.

Dar­über hin­aus diri­gier­te der Vater mei­nes frü­he­ren Tisch­ten­nis-Kum­pa­nen im Jahr 2022 auch Anfang Juli die größ­ten­teils latei­ni­sche sze­ni­sche Kan­ta­te von Carl Orff „Car­mi­na Burana“. Jedoch statt, wie im Pro­gramm­heft für 2022 ange­kün­digt, zwei Vor­füh­run­gen indoor in La Fenice, soll­te sich die Loca­ti­on ändern. Ich war für Living Cul­tu­re vor Ort: Nur eine ein­zi­ge Auf­füh­rung — am Sams­tag, dem 9. Juli — gab es. Die dafür auf dem wahr­schein­lich schöns­ten Platz der Welt, dem Mar­kus­platz, um 21 Uhr abends, also in der Däm­me­rung bezie­hungs­wei­se zu Son­nen­un­ter­gang. Zu Beginn des 1 Stun­de und 5 Minu­ten dau­ern­den Musik­stü­ckes ist der Platz noch hell erleuch­tet, am Ende ist alles dun­kel, und man kann kaum mehr den Text mit­le­sen. Der Platz voll mit eigens auf­ge­stell­ten Stüh­len und aus­ver­kauf­tes Haus. Links und rechts lau­schen die Gäs­te der Cafés mit.

Es heißt: „La Fenice in Piaz­za San Mar­co“ oder: „Fabio Lui­si diri­ge la Car­mi­na Burana“. Neben dem auch Deutsch spre­chen­den Maes­tro, oder „diret­to­re d’orchestra“, also „Orches­ter­di­rek­tor“, wie die wört­li­che Über­set­zung ins Deut­sche der ita­lie­ni­schen Bezeich­nung für „Diri­gent“ lau­ten wür­de, sind auch die Solist:innen mei­ner Mut­ter­spra­che mäch­tig: die Schwei­zer Sopran Regu­la Müh­le­mann, der öster­rei­chi­sche Bari­ton Mar­kus Wer­ba und der kana­disch-deut­sche Tenor Micha­el Scha­de. Dazu Orches­ter und Chor des Tea­t­ro La Fenice sowie der Kin­der­chor „Pic­co­li Can­to­ri Vene­zia­ni“.

Eine Stun­de und fünf Minu­ten bes­te Klang­qua­li­tät ohne Ver­stär­ker, dazu der Son­nen­un­ter­gang und das berühm­te wie­der­keh­ren­de Motiv „O For­tu­na“ am Anfang und Ende mit dem latei­ni­schen Text. Gän­se­haut pur. Ein beein­dru­cken­des Spek­ta­kel, das sich in ähn­li­cher Form nun all­jähr­lich wie­der­ho­len soll­te: Heu­er, 2023, am 8. Juli, mit dem Diri­gent Juraj Valču­ha und der berühm­ten Neun­ten Sin­fo­nie von Lud­wig van Beet­ho­ven, an deren Ende die berühm­te Ode an die Freu­de steht, die heu­ti­ge Euro­pa­hym­ne „Freu­de schö­ner Göt­ter­fun­ken“. Einem wei­te­ren stim­mungs­vol­len musi­ka­li­schen Abend auf dem viel­leicht schöns­ten Platz der Welt steht somit nichts mehr im Weg.

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