Lebensstraßen — Stationen-Theater in der Seestadt
Text: Lukas Wogrolly, Fotos: Living Culture
Im flächenmäßig größten Wiener Bezirk Donaustadt (in etwa zwei Drittel der Gesamtfläche von Graz), jenseits der Donau im sogenannten “Transdanubien”, liegt mit der Seestadt Aspern eines der größten Stadtentwicklungsgebiete Europas. Nur unweit von dort, wo 1809 Napoleon in der Schlacht von Aspern Österreich-Ungarn unterlag, befand sich bis in die 1970er Jahre ein Flugplatz, der vor allem im Zweiten Weltkrieg bekannt geworden war. Nach der Schließung des Flugfeldes pflanzten 1987 400 Wiener SchülerInnen Bäume für einen Gedenkwald. Heute (ent)steht auf dieser Fläche neben dem Gedenkwald, auf dem Areal des ehemaligen Flugfeldes, die Seestadt Aspern. In ihrem Endstadium sollen hier 20.000 Menschen leben und ebenso viele arbeiten, derzeit ist es zirka die Hälfte.
Eine Besonderheit der Seestadt Aspern ist, dass die Straßen hier fast ausschließlich nach Frauen benannt sind. Dazu entschied man sich, da vor der Errichtung der Seestadt in Wien von 4.269 nach Personen benannten Straßen und Plätzen lediglich 356 (!) die Namen von Frauen trugen. Die Theatergruppe Theater 7 machte sich diese Besonderheit zu eigen und führte 2018 das Stationentheater “Lebensstraßen” erstmals in der Seestadt auf. Aufgrund des großen Erfolges kam es im Folgejahr 2019 zu einer Wiederaufnahme.
Doch worum geht es genau in dem Stück? “Lebensstraßen” ist eine Zeitreise in die Geschichte der Rolle der Frau im Laufe der Jahrhunderte. Zahlreiche berühmte Frauen, nach denen die Straßen und Plätze in der Seestadt benannt sind, kommen hier zu Wort. Sie werden von Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters mit vielen Mehrfachrollen verkörpert, und das an unterschiedlichen Orten der Seestadt. Somit ist “Lebensstraßen” nicht nur eine Zeitreise, sondern auch eine Rundreise durch dieses faszinierende Stadtentwicklungsgebiet, das ein bisschen an Sim City und andere ähnliche Videospiele erinnert. Nicht zuletzt erfahren die Teilnehmenden dabei einige Fakten über die Seestadt. Auch die Bandbreite an Themen und Backgrounds ist erstaunlich groß. Heiterkeit kommt etwa auf bei Janis Joplin oder Josefine Hawelka, bekannt durch die gleichnamige Wiener Kaffeehausinstitution. Sie verteilt Buchteln für alle. Doch auch den dunklen Seiten der Geschichte ist sehr viel Platz gewidmet. Der Kampf als Frau gegen die Unterdrückung, der Kampf gegen das Nazi-Regime, wird mehrfach thematisiert, etwa bei Maria Potesil, Hermine Dasovsky oder Ella Lingens. Auch Graz-Bezug gibt es einigen, beispielsweise bei Christine Touiallon oder Georgine Steininger. Und dann ist da eben noch dieses immer wiederkehrende Thema der Geschichte der Rolle der Frau im Laufe der Jahrhunderte. Anselm Lipgens, zusammen mit Vanessa Payer Kumar für die Regie verantwortlich und wie auch sie Teil des Darsteller-Teams, verkörpert in unterschiedlichen Rollen meist den der es nicht wahrhaben will, dass die Frau sich emanzipiert, dass sie unabhängig wird und dass das traditionelle Bild einer von der Männerwelt unterdrückten, den Männern untertänigen Frau der Vergangenheit angehört. In diesem Zusammenhang spielt auch die Textänderung in der österreichischen Bundeshymne eine Rolle. Auf der anderen Seite die freiheitsliebenden Frauen auf dem Weg in die Selbstbestimmung, die sich in den unterschiedlichsten Domänen der Männerwelt behaupten wollen. Ada Lovelace als Mathematikerin, Christine Touiallon als Literaturwissenschaftlerin, Maria Tusch und Agnes Primocic als Arbeiterführerinnen, Tusch zudem auch als Politikerin. Und natürlich dürfen auch jene Branchen nicht fehlen in denen Frauen immer schon eine große Rolle gespielt haben zahlenmäßig. Psychologie und Pädagogik (Lotte Schenk-Danzinger), Psychotherapie und Psychoanalyse (Georgine Steininger und Else Frenkel-Brunswick) sowie natürlich Literatur und Philosophie mit Mimi Grossberg, Mela Spira, Susanne Schmida oder Hannah Arendt.
Alle Frauen die in diesem Stück vorkommen, habe ich jetzt nicht genannt. Dafür nenne ich jetzt noch ein paar die nicht vorkommen und aber aus meiner Sicht wichtig sind: Marie Curie, Bertha von Suttner oder Florence Nightingale. Nicht zu vergessen Mutter Teresa und Sophie Scholl.
Tja, es gäbe noch viele weitere bedeutende Frauen der Geschichte. “Lebensstraßen” bietet nur einen kleinen Einblick in diese faszinierende weibliche Welt und das auf einzigartige Art und Weise. Man hat ein bisschen das Gefühl, für kein anderes Theaterstück als für so ein Frauen-Geschichtsthema wäre die Seestadt besser geeignet. Denn: Die ganze Seestadt ist Bühne. Und, nicht zu vergessen: Die Seestadt ist weiblich.