Lebensbögen — Stationentheater in Wiens Seestadt Aspern
Text und Fotos: Lukas Wogrolly / Living Culture
Die Seestadt Wien Aspern liegt im flächenmäßig größten 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt. Sie ist eines der größten Stadtentwicklungsgebiete europaweit und (ent)steht dort, wo vor ziemlich genau einhundert Jahren das Asperner Flugfeld war. Eine Besonderheit der Seestadt liegt darin, dass dort fast alle Straßen nach Frauen benannt sind. Dies beschloss einst die Stadt Wien als Bauherrin der Seestadt, wohl um die männliche Dominanz an Straßennamen im übrigen Wien zu kompensieren beziehungsweise ihr entgegenzuwirken.
Auf den vielen für die Straßen und Plätze der Seestadt namensgebenden Frauen basierte bereits „Lebensstraßen“, das erste in der Seestadt aufgeführte Stationentheater der Gruppe Theater 7 rund um Vanessa Payer Kumar und Anselm Lipgens, über das ich bereits 2019 berichtet habe, hier der Link zum Text. Insgesamt durfte ich diese aufregende und berührende Produktion ganze 3 x erleben, und zwar jeweils im September in den drei aufeinanderfolgenden Jahren 2018, 2019 und 2020.
„Lebensbögen“ bildet nun die Fortsetzung von „Lebensstraßen“ und wurde Ende August 2022, knapp zwei Jahre nach der letzten offiziellen Vorführung von „Lebensstraßen“, uraufgeführt. Ich war bei der Vorpremiere an einem heißen Samstagmittag dabei. Im Gegensatz zu „Lebensstraßen“, das im zuerst bebauten Teil der Seestadt südlich des künstlich angelegten Seestadt-Teichs und der Endstation der U‑Bahn-Linie U2 spielt, nimmt sich „Lebensbögen“ nun der Straßen nördlich dieser Hotspots an. Dort, im sogenannten „Quartier am Seebogen“ – daher auch der Titel „Lebensbögen“ -, ist viel noch „under construction“ beziehungsweise „work in progress“, was jedoch für das Stück selbst nur von geringer Bedeutung ist. Auch die Besetzung entspricht nicht mehr 1:1 jener des Vorgängerstücks. Doch dazu später mehr. Und, das Allerwichtigste: Natürlich sind auch die namensgebenden Frauen beziehungsweise Persönlichkeiten ganz andere, aber selbstverständlich wieder in einer gewissen bunten Bandbreite. Was gleich bleibt, ist: Der Beginn in einer Art Stadtteilzentrum, nun eben für den Bereich Seestadt Nord. Es heißt „Forum am Seebogen“. Das Stück handelt von Frauen, nach denen eben die Straßen benannt sind. Die Frauen kommen aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Während des Stationentheaters legen die Teilnehmenden beziehungsweise ZuschauerInnen einiges an Wegstrecke zurück und werden dabei von den Guides, also bestimmten Schauspielerinnen, allen voran Pippi Langstrumpf, umsichtig geführt. Zwischendurch wird auch immer wieder vereinzelt in Gebäuden, also indoor, gespielt. Kürzere und längere Szenen wechseln einander ab ebenso wie heitere Momente mit sehr betroffen machenden historischen Tatsachen. In einer Bibliothek wird die verstorbene vormalige Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser in Erinnerung gerufen. Und finden sich Erinnerungen an die Gräuel des Nazi-Regimes. Am Ende gelangen alle BesucherInnen in eine Art Theater oder Gemeinschaftshaus, wo der feierliche finale Applaus fällt.
Nun zum Stück im Detail: Während sich die BesucherInnen beziehungsweise TeilnehmerInnen noch am Lina-Bo-Bardi-Platz im „Forum am Seebogen“ einen Überblick verschaffen können über die Entwicklung und den Sinn und Zweck der Seestadt Aspern, der dort anschaulich auf Schautafeln dargestellt wird, werden sie plötzlich jäh aus dem Konzept gerissen von der ersten Szene, bei der es gleich emotional wird. Jane Jacobs, ihres Zeichens Stadt- und Architekturkritikerin sowie Sachbuchautorin, verkörpert von Vanessa Payer Kumar, tritt fuchsteufelswild auf, zu sehen im YouTube-Video. Nach einem kurzen Moment der Aufregung geht es zu einem wunderschönen Blumenbeet daneben, in dem bereits die Gastschauspielerin Maxi Blaha in ihrer Rolle als Gartenbauarchitektin Anna Plischke die BesucherInnen erwartet. Und dann, weiter zu einer Indoor-Performance im Veranstaltungsraum „Fabrik“, nach der Pippi Langstrumpf die TeilnehmerInnen hüpfend auf der ersten längeren Wegstrecke anführt und mich sogleich bittet, ihren Kassettenrekorder zu tragen. Kein Problem für mich, wann habe ich schon so eine Gelegenheit, denke ich mir. Wie es sich gehört bei der verspielten Pippi, führt sie uns auf einen Spielplatz. Und es bleibt nun längere Zeit im Freien der Schauplatz. Dann folgt die bereits erwähnte Szene im Gedenken an Sabine Oberhauser und an die Opfer des Nationalsozialismus in einer Bibliothek. Sogleich wird es im Freien wieder heiterer, denn der „Philipp Jelinek der 1970er-Jahre“, wie sie sich selbst bezeichnet, nämlich die Vor-Turnerin der Nation und Hörfunkmoderatorin Ilse Buck, lädt zu Gruppengymnastik. Und führt die Gruppe zu einem Haus, vor dem Tini Kainrath jodelt, einst als Mitglied der „Rounder Girls“ Teilnehmerin für Österreich am Eurovision Song Contest. Sie verkörpert die Sängerin und Dudlerin Trude Mally. Am Ende geht es, wie schon bei „Lebensstraßen“, auch bei „Lebensbögen“ wieder in ein geschlossenes Gebäude. Wo der feierliche finale Applaus fällt.
In Summe eine wundervolle Fortsetzung der bekannten „Lebensstraßen“, mit bekannteren und weniger bekannteren DarstellerInnen. Hervorzuheben seien neben der Organisatorin und Multi-Performerin von sowohl „Lebensstraßen“ als auch „Lebensbögen“ Vanessa Payer Kumar die beiden bedeutenden Gastschauspielerinnen („Special Appearances“ im Fachjargon) Maxi Blaha und Tini Kainrath. Ein Stück, mit ganz viel Leidenschaft der DarstellerInnen performt, und mit ganz vielen berühmten weiblichen Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen in den unterschiedlichsten Rollen. Dass bei den drei „Lebensstraßen“-Vorführungen jeweils in der zweiten Septemberhälfte das Wetter frisch und kühl war, bei der „Lebensbögen“-Performance Ende August jedoch heiß und schwül, ist ein weiteres persönliches Detail. In diesem Sinne: Auf hoffentlich einen dritten Teil dieser wunderschönen Stationentheater-Reihe von theater7. Beziehungsweise, wer „Lebensbögen“ noch nicht erlebt hat, wird wohl 2023 dazu noch Gelegenheit haben.
UPDATE: Am 12. Oktober 2023 wurde in der Buchhandlung SEESEITEN die Begleitbroschüre “LEBENSBÖGEN — Erinnern für die Zukunft” präsentiert. Zunächst gab es eine künstlerische Performance von Vanessa Payer, Florian Stanek, Viktoria Hillisch und Christina Trefny. Dann interviewte Johannes Kößler von den SEESEITEN die SchauspielerInnen sowie die ebenfalls anwesende und beteiligte Hilde Grammel. Die Broschüre illustriert den Hintergrund einiger ausgewählter Persönlichkeiten des Stücks, darunter Beatrix Kempf, Anna Plischke, Pippi Langstrumpf, Käthe Recheis, Elinor Ostrom, Karoline von Perin-Gradenstein, Barbara Prammer, oder auch Jane Jacobs und Eileen Gray. Und zeigt, wie hochaktuell in der heutigen Zeit jene Themen sind, für die diese den Seestadtstraßen ihre Namen gebenden Frauen stehen.