Futuristen: Aufwecker oder Aufhetzer?
Text: Robert H. Gasser, Bischöfliches Gymnasium Graz, 8. Klasse; Fotos: Robert Gasser
Fanatisch und aufgeregt riefen die Futuristen nach Vernichtung und Untergang, nach In-Brand-Stecken von Bibliotheken, Überschwemmen von Museen, dem Untergraben der zeitgenössischen Kultur, dem Auflösen vertrauter Geometrien und der Zerstörung kultureller, übernationaler Identitäten. „Die revolutionäre Arbeiterklasse hatte und hat das Bewusstsein der Verpflichtung, einen neuen Staat zu gründen, mit ihrer zähen und beharrlichen Arbeit eine neue ökonomische Struktur zu errichten und eine neue Zivilisation zu gründen.“ Der Grundtenor der futuristisch, politischen Strömung unterschied sich nur in geringem Maße von der Ideologie der chinesischen Kulturrevolution (Viele der „Volkskunstwerke“, welche aus dieser Zeit und danach stammten, trugen futuristische Elemente in sich, obwohl ihr Ursprungsort China war).
„Nichts Geringeres planten die Futuristen als die totale Zertrümmerung der Vergangenheit“, so Hanno Rauterberg in „DIE ZEIT“, 2009, Nr.8, vor allem ihr Heimatland Italien wollten sie „befreien von seinem Krebs an Professoren, Archäologen, Ciceronen und Antiquaren.“
Sie betrachteten den Krieg, ähnlich wie Mao Zedong und Adolf Hitler, als einzige Hygiene der Welt. Frauenverachtung, Anlehnung an den Faschismus, Verhetzung und Zerstörung waren die Schlachtrufe der Futuristen. Viele ihrer Werke unterschieden sich kaum von denen des Kubismus und stellten sich anfänglich nicht als besonders innovativ dar. Man kann die Futuristen also als kleine randalierende, systemverachtende, provinzielle Gruppierung, mit einem Mangel an Innovation und Kunstverständnis ansehen. Befasst man sich jedoch eingehender mit ihren Ideen und Ansichten, so offenbart sich einem, dass der Futurismus erst in Italien eine nennenswerte Kunstrevolution gebiert und Strömungen in allen europäischen Ländern auslöst, welche einen Bruch mit den klassischen Insignien der Kunst anstreben.
Besonders in Russland erfuhr der Futurismus eine außergewöhnliche Evolution, eingebettet in das Biotop der Revolution und der revolutionären Literatur. Einen schönen Einblick gibt das Buch „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack – russische Futuristen“ der Edition „Nautilus“ mit zahlreichen Beiträgen verschiedener russischer Futuristen aus den Jahren 1910–1917. Olga Rozanova bringt das Selbstverständnis in einem Beitrag auf den Punkt: „Die zeitgenössische Kunst hat die ganze Substanz der Prinzipien freigesetzt, zum Beispiel des Dynamismus, des Volumens und des Gleichgewichts im Bild, der Prinzipien von Schwere und Leichtigkeit, der linearen und flächenmäßigen Verschiebung, des Rhythmus als normierte Aufteilung des Raums, der Einebnung, der Dimension von Ebene und Oberfläche, der chromatischen Beziehung, so wie vieler anderer Prinzipien. Es genügt uns, diese Prinzipien aufzuzählen, die die Neue Kunst von der alten unterscheiden um uns vom qualitativen und nicht nur quantitativen Charakter des Neue Prinzips zu überzeugen, der den Beweis für den „eigenen“ Charakter der Neuen Kunst gibt.“
Hielt sich der Futurismus in früher Form noch als eigenständige Kunstrichtung, mutierte er später zusehends zu einer Ausdrucksform des sowjetischen Realsozialismus und blieb dies bis in die 1970er Jahre. In den 1920er Jahren zog es zahlreiche antiimperialistische Künstler in die Heimat des Sozialismus, die UdSSR, großteils sogar auf Einladung wie zum zehnjährigen Jubiläum der Revolution. Zu den Künstlern gehörten Größen wie Käthe Kollwitz und Diego Rivera. Die ausländischen Künstler wurden zu Beginn vollständig integriert. Es wurden sogar Institutionen zu ihrer Förderung gegründet, viele blieben dort oder flüchteten vor dem aufkeimenden Nationalismus in Europa. Leo Trotzki war ein großer Förderer und Verfechter futuristischer Ideen. Dies kommt besonders in seinem Werk „Der Futurismus“ zum Ausdruck.
Ein typisches Werk aus dem russischen Futurismus der 1920er Jahre zeigt Abb. 3, es trägt alle Merkmale futuristischer Bilddarstellung. Jedoch wurden jene Künstler bald darauf, in den 1930er Jahren, aufgrund der zunehmenden Isolierung der UdSSR bzw. der dort herrschenden Xenophobie in ihrem Schaffen eingeschränkt und Opfer von Verfolgung. „Daraus ergab sich die Diskrepanz zwischen den psychologischen Typen des Kommunisten als politischem Revolutionär und des Futuristen als formal revolutionärem Neuerer“ (Trotzki).
Langsam wurde aus den künstlerischen Idealen des Futurismus ein Teil der Propagandamaschine der Sowjetunion, des kommunistischen Chinas (siehe Abb. 1, 2), aber auch der Faschisten. Man kam mit der Zeit an einen Punkt, an dem der Futurismus als Kunstrichtung zu einer Propagandaschlacht zwischen Ost und West degradiert wurde.
Und heute? Da möchte ich noch auf den Neofuturismus hinweisen, der zur Jahrtausendwende eine idealisierte, zukunftsweisende, positiv behaftete, nachhaltig wirksame Industriekultur ins Zentrum des künstlerischen Schaffens rückt. In diesem Kontext möchte ich auf die Blob Kultur und den architektonischen Experimentalismus von Michael Webb hingewiesen. Exemplarisch für den fortwirkenden Geist des Futurismus ist die Tatsache, dass z.B. das Werk der „Anbräuner“ von Neo Rauch (neue Leipziger Schule – postrealsozialistische Malerei, eine Folgeentwicklung des Futurismus in 3. Generation) jüngst bei einer Versteigerung 750.000 Euro erzielt hat und Neo Rauch derzeit als einer der erfolgreichsten und wichtigsten Maler Deutschlands gilt. Das Bild zeigt einen Künstler, der ein Gemälde mit seinen eigenen Exkrementen malt. Im Werk Rauchs finden sich etwa fünfzig Prozent der im futuristischen Manifest geschriebenen Postulate, wie Mut und Auflehnung, angriffslustige Bewegung, aggressiven Charakter, Angriff auf den Moralismus, Aufruhr und Abweichung von der Norm.
Da futuristische Ideologie und Denkweise parallel auch Mussolini und die Propagandaschaffenden des dritten Reiches ebenso inspirierte wie die Propagandamaschinerie der russischen, chinesischen DDR und des nordkoreanischen Realsozialismus, kann man sich vorstellen, welch gewaltige Reperkussionen diese Kunstströmung bis heute hat, gemessen an dem enormen Einfluss und der Zerstörungskraft der Weltkriege und dem darauf folgenden Kalten Krieg.
Abb. 1: Unbekannte Künstlerin, China, 70-er Jahre
Abbildungsnachweis: https://i.pinimg.com/736x/04/44/28/0444287e1dc3388eed2d9091b8dd8176.jpg
Abb. 2: Unbekannte Künstler, China, vermutlich 1970er Jahre
Abbbildungsnachweis: img.gawkerassets.com/img/193tslo2qsdzjjpg/original.jpg
Abb. 3: Kuzma Petrov-Vozkine, Fantasie (1925), St. Petersburg
Abbildungsnachweis: http://en.opisanie-kartin.com/description-of-the-painting-by-kuzma-petrov-vodkin-fantasy/