93,18 Prozent für eine Türkis-Grüne Regierung
Text: Lukas Wogrolly; Fotos: Living Culture
Es war wahrlich ein historischer Tag, an dem ich mich in die Mozartstadt Salzburg begab. Hier, in der Mitte Österreichs, wo die Grünen bereits seit 2013, also seit fast sieben Jahren, mit der ÖVP regieren — anfangs auch mit dem Team Stronach, dann eine Zeit lang nur zu zweit, und seit der letzten Landtagswahl 2018 wieder in einer Dreierkoalition, aber diesmal mit den NEOS statt dem Team Stronach. Hier im wunderschönen Salzburg, wo die Grünen 2013 bei der Landtagswahl mit 20% ein Rekordergebnis schafften. Hier, ja genau hier, passierte am 4. Jänner 2020 wahrlich Historisches. Noch nie hatte es eine Grüne Partei in Österreich zu Regierungsehren geschafft. Unvergessen sind die Szenen am Beginn dieses Jahrtausends mit dem nunmehrigen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, damals Bundessprecher der Grünen, als er die Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP um 5 Uhr morgens beendet. Und unvergessen würden auch jene Szenen sein, die sich im Kongresshaus Salzburg Anfang 2020 abspielen sollten. Es ist ein trüber, kalter Samstagmorgen, an dem ich in Salzburg ankomme. Den Railjet aus Wien habe ich genommen, mit mir viele Grüne Delegierte. Eine davon, Andrea Diawara, ihres Zeichens Bezirkssprecherin des 13. Bezirks Hietzing, sollte eine jener sein, die GEGEN das Regierungsübereinkommen später stimmen sollten. Doch so weit sind wir noch nicht. Es ist Vormittag in der Mozartstadt, die Grünen trudeln ein. Auch die späteren Regierungsmitglieder Anschober und Lunacek, wie auf den YouTube-Videos zu erkennen ist. Ich finde den Eingang zum Kongresshaus erst im dritten Anlauf. Und auch die ersten Stunden, der gesamte Vormittag, dient mir praktisch nur, um die Atmosphäre in mich aufzusaugen. Denn der gesamte erste Teil dieses historischen Tages findet ohne JournalistInnen statt. Es geht darum, dass sich alle Grünen, insbesondere die knapp 300 Delegierten, ein Bild vom Regierungsprogramm machen. Es gibt Schautafeln, ihnen stehen die HauptverhandlerInnen Rede und Antwort. Doch viel mehr als das bekomme ich auch nicht mit in diesen Vormittagsstunden. Denn JournalistInnen dürfen bekanntlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht dabei sein. Was sie aber machen, meine KollegInnen der Presse, ist, Interviews führen. Zum Beispiel mit dem Innsbrucker Gemeinderat Dejan Lukovic, seines Zeichens ein weiterer Abtrünniger. Denn selbst wenn die Headline von 93,18 Prozent spricht – ich will das Ergebnis der Abstimmung an dieser Stelle mal vorwegnehmen – man hat lange nicht das Gefühl, es würde so eindeutig werden. Und, immerhin: 93,18 Prozent sind nicht 100 Prozent. Denn gerade jene, die dagegen sind, stehen besonders im Fokus. Und verschaffen sich besonders Gehör. Apropos Presse: Es ist nicht nur die „ernste“ Presse da, sondern auch der Kabarettist Peter Klien, seines Zeichens stets als ORF-Reporter verkleidet. Für seine Late-Night-Show „Gute Nacht Österreich“ interviewt er Grüne Delegierte. Und auch ich grüße ihn, mache ein Selfie und gebe ihm als Fan seiner Programme auch ein paar Tipps bzw. mache ihm ein paar Vorschläge, was er denn fragen könnte. Nun gut, das mit Peter Klien war zum Mittagessen. Ein reichhaltiges, gar nicht veganes Buffet mit viel guter Pasta. Erst im Nachhinein erfahre ich, dass es vom Luxushotel Sheraton nebenan kommt, in dem auch Grüne genächtigt haben. Und dann, nach dem Essen im 1. Stock, geht es noch einen Stock höher, in den Veranstaltungssaal. Wie dieser Raum offiziell heißt, weiß ich nicht. Es ist auch nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr, dass ich das Geschehen – im Gegensatz zu allen anderen Medien – zu fast 100% aus der Vogelperspektive beobachte. Will heißen, ich gehe auf die Galerie. Wo dann, zum Zeitpunkt der Abstimmung über das Regierungseinkommen, neben mir die langjährige Abgeordnete Terezija Stoisits stehen sollte. Dann beginnt das Programm. Ich habe Platz genommen. Die HauptverhandlerInnen kommen unter frenetischem Applaus. Ich beobachte alles von oben, Delegierte sitzen fast direkt unter mir. Erste Rednerin ist Regina Petrik, ihres Zeichens Grüne Obfrau im Burgenland. Sie hat Ende dieses Monats eine Landtagswahl zu schlagen. Und betont, wie beispielhaft es ist, dass die Grünen aus der Talsohle des Rauswurfs aus dem Parlament 2017 wieder bis nach oben geklettert sind. In lediglich zwei Jahren. Wie beispielhaft das für all jene Menschen sein kann, die eine Talsohle wie die Grünen 2017 auch mal in ihrem Leben durchleben. Und wie es dann auch für diese Menschen wieder aufwärts gehen kann. Diese wichtige Botschaft, nahezu eine Metapher wie es gehen kann, nehme ich aus Petriks Rede mit. Dann kommt der Bundessprecher und spätere Vizekanzler Werner Kogler. Seine einstündige Rede wird von zahlreichen Kameras begleitet, eine davon filmt auch mich kurz. Im Gegensatz zu früheren Reden kein Wort mehr von einer türkisen Schnöseltruppe. Klar, den späteren Koalitionspartner darf man nicht vergrämen. Mit aufgestrickten Ärmeln spaziert er leger über die Bühne. Und immer wieder kommen die entscheidenden Worte über die Klimakrise und von der letzten Generation die noch was gegen die Klimakrise tun kann. Dieses plötzliche, aber immer wiederkehrende, unregelmäßige Erhöhen der Lautstärke, Erhöhen des Pathos im Sprechen, ist charakteristisch für den Bundessprecher. Urplötzlich sagt er durch lautere Stimme, ja, genau das ist wichtig. Und erntet frenetischen Applaus, wie immer. Es folgen die anderen HauptverhandlerInnen. Birgit Hebein, wie immer mit gedämpfter Stimme, ihres Zeichens Grüne Wiener Vizebürgermeisterin seit einem guten halben Jahr und somit Nachfolgerin der legendären Maria Vassilakou. Josef Meichenitsch, ein eher Unbekannter Externer. Die auffällige spätere Klubobfrau Sigi Maurer. Und die späteren MinisterInnen Gewessler, Zadic und Anschober. Dann ist endlich Question Time. Oder besser gesagt, dann können sich alle Delegierten selbst zu Wort melden und ihren Senf abgeben. Zwei Minuten darf jede/r reden, viele überziehen. Und die Liste ist lang. Viele bedeutende Gesichter melden sich zu Wort, viele kritisch, aber die meisten doch mit der Überzeugung, dem Regierungsübereinkommen zuzustimmen. Dies gilt für Berivan Aslan (ehemalige Nationalratsabgeordnete) und Monika Vana (EU-Abgeordnete), für die Grüne Grazer Stadträtin und ehemalige Nationalratsabgeordnete Judith Schwentner. Es gilt auch für viele andere. Dann gibt es aber auch noch andere Kategorien. Es gibt zum Beispiel den Burgenländer Grünen Gerhard Mölk. Zwar auch ein Befürworter, aber ein solcher der sogar von der New York Times zitiert werden sollte. Denn, analog zu Star Trek, meint er, „wir Grüne sollten dorthin vorstoßen, wo Grüne noch niemals zuvor waren“. In himmlische Bundesregierungs-Sphären, also. „Gerhard, komm zurück auf diese Erde“, hallt es aus dem Präsidium. Und dann ist die wohl spektakulärste Rede-Intervention zu Ende. Auch wenn das mit der New York Times erst am Tag danach kommen sollte. Wir sind, zurück auf der Erde, bei den Redebeiträgen. Ja, und dann gibt es auch noch solche, die vielleicht keinen Star-Trek-Vergleich bringen, aber die vor allem eines sind: kritisch und dagegen. Allen voran Flora Lebloch von der Grünen Jugend. Aber auch der Tiroler Landtagsabgeordnete Michael Mingler, die Grüne Bezirkssprecherin aus dem 13. Wiener Bezirk Andrea Diawara oder Viktoria Spielmann von der ÖH bringen sich sehr kritisch ein. Man hat fast das Gefühl, die GegnerInnen des Regierungsabkommens sind doch nicht so wenige. Und dann wird die Rednerliste geschlossen und um 17 Uhr ca. die Debatte für beendet erklärt. Grund dafür: Die steirischen und burgenländischen Grünen haben ihren letzten Zug um 18:14 Uhr. Es gibt Proteste, es gibt Einwände gegen diese Handhabe. Aber: Die Mehrheit ist für diese Beendigung der Redenden. Und gibt somit die Abstimmung frei. Auch bei der Abstimmung selbst gibt es einen Antrag, der in der Minderheit bleiben sollte. Er lautet auf geheime Abstimmung. Innsbrucks Grüner Bürgermeister Georg Willi liefert die passende Gegenintervention: er meint, bei den Grünen, wenn sie unter sich seien, brauche sich niemand für seine Meinung zu schämen. Und alle können frisch von der Leber weg sagen bzw. durch Heben des Stimmzettels frei zum Ausdruck bringen, ihren Konsens oder eben auch ihren Dissens mit dem vorgelegten Regierungsübereinkommen mit der ÖVP. Also wird offen abgestimmt. Und das Ergebnis lautet 93,18% für eine Grüne Regierungsbeteiligung mit der ÖVP. Die erste Grüne Regierungsbeteiligung auf Bundesebene in der Geschichte Österreichs. Dann wird noch das Regierungsteam gewählt. Der Vorschlag lautet auf Vizekanzler Kogler, Minister Anschober, Ministerin Gewessler, Ministerin Zadic und Staatssekretärin Lunacek. Dieser Vorschlag wird noch eindeutiger angenommen als zuvor das Regierungsübereinkommen. Alle freuen sich und das Ende ist nur noch Friede, Freude, Eierkuchen. Den es nicht gab, aber man sagt es so. So wie man ab jetzt auch sagen kann, wir haben Grüne in der Regierung auf Bundesebene. Wir haben Grüne in der Bundesregierung. Einmal ist immer das erste Mal. Und es geschah am 4. Jänner 2020 in Salzburg, als genau diese Geschichte geschrieben wurde. Ein historischer Tag.